Ach, aber mit Versen ist so wenig getan, wenn man
sie früh schreibt. Man sollte warten damit und Sinn
und Süßigkeit sammeln ein ganzes Leben lang und
ein langes womöglich, und dann, ganz zum Schluss,
vielleicht könnte man dann zehn Zeilen schreiben,
die gut sind.
(aus: "Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge")
Lieber, lieber Rilke!
Warum hast du es mir so schwer gemacht, warum hast du mir so wenig übrig gelassen, warum nur hast du mit deinem Malte alles aus der Literatur herausgesaugt, was sie zu bieten hat?
Hättest du nicht auf einen Krümel verzichten können? War dein Hunger so groß, so heiß, dass du alles selbst vertilgen musstest, weil du sonst nicht satt geworden wärest?
Aber ich verstehe es, ja, ich kann es voll und ganz nachvollziehen, warum du es tun musstest, dir gar keine andere Wahl blieb, du nicht an die denken durftest, die nach dir kommen: Es lag in deiner Macht! Die Natur hatte dir das Talent gegeben, die Gewalt verliehen, diese Muse zu bändigen, ihr ein fundamentales, ein Epoche machendes Werk zu entreißen. Auf wen hättest du auch warten sollen, welchem anderen hättest du diese Aufgabe überlassen können, wer ansonsten hätte sie auszuführen verstanden?
So lag es an dir, zu tun, was getan werden musste - ohne Rücksichtnahme auf eventuelle spätere Beschwerden, etwa dergestalt: Warum hast du mir so wenig übrig gelassen?
Lieber, lieber Rilke! Du hast gezeigt, dass Literatur dort anfängt, wo sie aufhört. - Ich will beginnen!